
Perspektive
Patient:innen ermächtigen: sehenden Auges, statt blinder Passagier:innen
Herr Prof. Dr. Erb, das primär chronische Offenwinkelglaukom (PCOG), die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) und die diabetische Retinopathie können allesamt zur Erblindung führen. Was sind die Ursachen dieser Augenerkrankungen?
Die Ursachen bzw. Mechanismen dieser drei Erkrankungen sind ganz unterschiedlich. Allerdings gibt es ebenso Gemeinsamkeiten: Sie vereint die Wirkung des erhöhten oxidativen Stresses. Im Körper entstehen durch den Stoffwechsel stets freie Radikale. Diese werden unter anderem durch Schutzmechanismen, z. B. die Aktivität der Superoxiddismutase, abgefangen und neutralisiert. Kommt es zu einer zu großen Menge an freien Radikalen, z. B. durch exzessiven Sport, oder sind die Schutzsysteme beeinträchtigt, dann kann es zu einer überschießenden Entzündungsreaktion und als Folge zur Neurodegeneration – nicht nur am Auge, sondern auch systemisch – kommen.
Können die Schutzsysteme positiv beeinflusst werden?
Ja, das geht, und zwar über einen gesunden Lebensstil und eine ausgewogene Ernährung. Am Beispiel des PCOG lässt sich das darstellen: Primär liegen Störungen der mitochondrialen Erbinformation vor, die mit mitochondrialen Funktionseinschränkungen einhergehen. Diese Veränderungen werden einerseits durch die Summe glaukomassoziierter Gene (= polygenetischer Risiko-Score) beeinflusst, andererseits werden das Aus-maß und die Geschwindigkeit des Fortschreitens der Erkrankung epigenetisch, also auch durch Umwelteinflüsse, gesteuert. Unter Umwelteinflüssen verstehe ich beispielsweise die Verhaltensmuster im Alltag, ob jemand raucht, Alkohol trinkt, Stress hat oder Sport treibt und sich gesund ernährt. Auch das Vorliegen von Allgemeinerkrankungen spielt eine Rolle, wie zum Beispiel ein Bluthoch-druck oder eine Zuckererkrankung. Insofern kann der Lebensstil die Schutzsysteme und die neurodegenerativen Erkrankungen positiv oder negativ beeinflussen.
„Nicht nur was, sondern wie wir essen, ist wichtig“
Worauf kommt es bei der Ernährung im Einzelnen an?
Bei der Ernährung geht es nicht nur um die Nährstoffe. Ein wichtiger Punkt ist auch die Chronobiologie, also wann und wie viel wir essen. Das Essensmuster hat einen Einfluss auf das Expressionsmuster molekularer, zirkadianer Oszillatoren. Wir können das Zellverhalten durch die Art zu essen steuern. Generell plädiere ich dafür, pragmatische Empfehlungen abzugeben. Drei Mahlzeiten am Tag statt fünf finde ich gut und richtig. Viele Zwischenmahlzeiten wirken sich eher ungünstig aus. Die Nahrung sollte sich aus viel Gemüse und Obst, mehr Fisch als Fleisch und hochwertigen Ölen zusammensetzen. Ich denke da an die viel zitierte mediterrane Ernährung. Allerdings sollten Früchte ausgewählt werden, die heimisch sind. Dabei geht es mir nicht allein um die Ökobilanz. Heimische Früchte sind in der Regel vor Ort ausgereift und reich an Vitaminen. Übersee-Produkte sind dies oft nicht.
Welche Rolle spielt die Bewegung?
Regelmäßige, dem Alter angepasste Bewegung wirkt sich positiv auf die Augengesundheit aus. Leistungssport hingegen nicht. Dieser erhöht den oxidativen Stress. Die positive Wirkung von Bewegung hängt eng mit dem Mikrobiom zusammen. Die Zusammensetzung des Mikrobioms kann durch Bewegung positiv beeinflusst werden, und zwar wohl besser als durch eine vegetarische Ernährung.
„Ich schaue besonders auf Helicobacter pylori“
Wie ist der aktuelle Forschungsstand zum Mikrobiom?
Das Mikrobiom ist immer noch nicht ausreichend gut verstanden. Vielleicht wissen wir etwa zu 10 % etwas über seine Aktivitäten und Funktionen. Das Mikrobiom ist in situ schwer zu studieren. Wir wissen, dass es Neurotransmitter bildet. Es ist bekannt, dass die mikrobielle Synthese von kurzkettigen Fettsäuren zur Energieversorgung des Gehirns beiträgt. Außerdem tragen Serotonin und Tryptophan des Mikrobioms zur Tag-Nacht-Rhythmik bei.
Eine besondere Bedeutung hat das Mikrobiom für die Permeabilität der Darmwand. Wird die Darmwand durchlässig, kann es zu systemischen Autoimmunprozessen kommen. Beim PCOG ist ein schädigender Zusammenhang mit dem gramnegativen Keim Helicobacter pylori bekannt. Kommt es zum Kontakt von H. pylori mit dem Immunsystem des Darms, können autoreaktive T-Zellen entstehen. Das hat einen ungünstigen Einfluss auf das Glaukom.
Was halten Sie von Nahrungsergänzungsmitteln bei Patient:innen mit neurodegenerativen Augenerkrankungen? Reicht eine gesunde Ernährung allein aus?
Eine gesunde Ernährung, wenig Alkohol, Kaffee und Zigaretten, mäßige Bewegung – das bringt schon sehr viel. Ich motiviere meine Patient:innen, von denen ich den Ein-druck habe, eine Lebensstiländerung könnte einiges bewirken, eine Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen. Dennoch gibt es ein paar antioxidativ wirkende Mikronährstoffe, die ich zur Ergänzung empfehle. Beim Glaukom sind es das Coenzym Q10 und Citicolin. Bei der diabetischen Retinopathie hat Alpha-Liponsäure eine positive Wirkung. Außerdem gibt es eine sehr gute Datenlage für Lutein, Zeaxanthin und Mesozeaxanthin bei der altersbedingten Makuladegeneration. Diese Stoffe können wir über die Ernährung nicht in ausreichender Menge aufnehmen.
„Patient:innen sollten rechtzeitig gezielt nachsteuern“
Was können Patient:innen durch eine Ernährungs- und Lebensstiländerung bzw. Nahrungsergänzungsmittel bewirken?
Sie können den oxidativen Stress und dadurch den neurodegenerativen Prozess positiv beeinflussen. Dadurch bessert sich einerseits die Lebensqualität. Andererseits wird der Schweregrad der Erkrankung dadurch abgeschwächt und die Progression schreitet nicht so schnell voran. Patient:innen, die sich aktiv an den Prozessen, die mit ihrer Erkrankung verknüpft sind, beteiligen, gehen meiner Erfahrung nach anders mit ihr um. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass Patient:innen sich gut mit ihrer Erkrankung auskennen sollten. Ich hole sie immer ins Boot, erkläre viel und informiere, soweit es geht. So können die Betroffenen die Ursprünge ihrer Erkrankung verstehen und werden ermächtigt, Verantwortung dafür zu übernehmen.
Herr Prof. Dr. Erb, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Prof. Dr. Carl Erb studierte Medizin an der Ruhr-Universität Bochum, der Freien Universität Berlin und am Royal Preston Hospital, England. Zwischen 2005 und 2011 war er Chefarzt in der Abteilung für Augenheilkunde an der Schlosspark-Klinik in Berlin. Er ist seit 2006 Apl-Professor an der Charité Berlin und seit 2011 an der Augenklinik im Ring-Center Spezialist für Glaukom-Behandlungen. Seit 2010 ist Prof. Erb Vizepräsident der Sektion Glaukom der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft.