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Perspektive

„Digitalisierung hilft uns einzuschätzen, welches Essen nachhaltig ist“

Digitale Technologien sind in der Landwirtschaft und auf unseren Tellern angekommen. Hendrik Haase, Mitautor des Buches „Food Code: Wie wir in der digitalen Welt die Kontrolle über unser Essen behalten“ haben wir gefragt, wie er zu Acker-Tipps aus dem Weltall und zu Fitnesshalsbändern für Kühe steht.

Herr Haase, Nachhaltigkeit und Regionalität sind für viele Verbraucher:innen wichtige Qualitätskriterien beim Essen. Wie kann Digitalisierung dazu beitragen?

Nachhaltigkeit und Regionalität lassen sich nur mithilfe von Digitalisierung präzise messen und beurteilen. So kann die/der Konsument:in heute schon per App erfahren, wie viel Wasser und CO2 für das Schnitzel und die Kartoffeln auf dem Teller verbraucht wurden und wie die Klimabilanz aussieht. Der Algorithmus benötigt nur die Angaben über die Grammzahl sowie Haltungs- bzw. Anbaustufen der Lebensmittel. Das hilft dabei einzuschätzen, welches Essen tatsächlich nachhaltig ist. Ein anderer Aspekt ist die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. Algorithmen können genau kalkulieren, dass ein Supermarkt am kommenden Mittwoch zehn Milchpackungen ins Regal stellen sollte, weil nur diese Menge abverkauft werden wird. In die Kalkulation fließen u. a Wetterdaten, Ferienzeiten, Staumeldungen etc. ein. Was Regionalität betrifft, lassen sich viele Lebensmittel über QR-Codes zurückverfolgen, so dass die Verbraucher:innen wissen, wo diese produziert wurden. Man kann sich gleich ohne lange Lieferkette mit den Erzeugern verbinden – Stichwort ‚CrowdFarming‘ – und bestellt z. B. seine Bio-Orangen direkt beim Obstbauern in Spanien.

Ein weiteres Beispiel für Digitalisierung sind Fitness-Halsbänder für Kälber. Was hat es denn damit auf sich?

Die/der Bäuer:in eines großen Betriebes kann nicht mehr jede Kuh einzeln begrüßen und schauen, wie es ihr geht. Man ist darauf angewiesen, dass deren Gesundheit überwacht wird. Die Halsbänder erfassen u. a. die Bewegungsmuster und Aktivitäten. Ein Algorithmus kann aus den Daten erkennen, dass eine Kuh in zwei Tagen erkranken wird. So kann die/der Bäuer:in eine Behandlung einleiten, noch bevor Symptome sichtbar sind. Der Vorteil: Erkrankungen werden rascher erkannt und greifen nicht auf die ganze Herde über. Nur das betroffene Tier wird, wenn nötig, auch mit Antibiotika behandelt, aber nicht mehr prophylaktisch alle Tiere. Insofern dient die Überwachung dem Tierwohl und der verringerte Antibiotikaeinsatz kommt uns Konsumenten zugute.

Sehen Sie einen ähnlich zielgerichteten Nutzen auch in der Landwirtschaft?

Auch wenn die/der Bäuer/in sein Feld immer noch persönlich begutachtet, helfen ihr/ihm Daten aus dem All. Satelliten und auch Drohnen können sehr viel mehr als nur das für das menschliche Auge sichtbare Licht erkennen. So können z. B. mit Infrarot-Sensoren der Nährstoffgehalt des Bodens analysiert und daraufhin die Güllemenge dosiert werden. Drohnen sind in der Lage, große Flächen zu überwachen und können in Echtzeit dreidimensionale Informationen liefern. Zusammen mit anderen Daten geben sie Auskunft über Schädlingsbefall, den Grad der Trockenheit oder den Reifegrad des Getreides. Wie bei der Tierhaltung profitieren wir von der Einzelpflanzen- oder Teilfeldbehandlung. Nicht mehr das ganze Feld muss mit Pestiziden besprüht werden, sondern nur einzelne Partien. Selbst einzelne Obstbäume können durch Drohnen angeflogen und behandelt werden. Man spricht hier von „Precision Agriculture“, Präzisionslandwirtschaft, die durch den Einsatz digitaler Technologien Produktionsabläufe und Wachstumsbedingungen optimiert. Die so produzierten Lebensmittel sind zwar immer noch nicht „bio“, aber zumindest weniger belastet.

Welche Veränderungen unserer Esskultur beobachten Sie? Was ist überhaupt „digitale Esskultur“?

Unter digitaler Esskultur verstehe ich zum einen, dass wir Zugriff haben auf einen riesigen Rezeptschatz. Ob Chefkoch.de, der Thermomix oder der smarte Kühlschrank – sie alle verfügen über Rezeptdatenbänke und bringen so Digitalität in unseren Essalltag. Manche Menschen finden es cool, sich von einem YouTube-Video beim Kochen anleiten zu lassen. Wenn dann aber alle am Tisch damit beschäftigt sind, ihr Essen zu fotografieren und in ihrer Chatgruppe zu posten, leidet darunter vermutlich irgendwann der Genuss. Zum anderen ist es Teil der digitalen Esskultur, immer dann zu essen, wenn das Fitnessarmband es für sinnvoll hält. Das kann dazu führen, dass z. B. Familienmitglieder nicht mehr gemeinsam essen, weil jeder seinem eigenen Rhythmus folgt.

In welchen Bereichen wird sich Nahrung aus dem 3D-Drucker durchsetzen und bekommen wir künftig personalisierte Gerichte serviert?

Dazu wird momentan viel experimentiert, ob 3D-gedruckte Nudeln oder Schokotörtchen. Die Zukunft dafür sehe ich eher für sogenanntes Kulturfleisch, in Deutschland als ‚Laborfleisch‘ bekannt. Kulturfleisch wird aus tierischen Zellen in Bioreaktoren produziert. Man lässt es auf Stützgerüsten aus Cellulose wachsen, um die typisch faserige Fleischtextur nachzuahmen und bringt es durch 3D-Druck in Form. Die Drucktechnologie ermöglicht zudem die Personalisierung, z. B. von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungen. Ich glaube aber nicht, dass Roboter oder 3D-Drucker uns in Zukunft ein personalisiertes Menü servieren werden.

Herr Haase, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

 

Hendrik Haase setzt sich für gute Lebensmittel ein, plädiert für eine nachhaltige Küche und sieht die Digitalisierung des Essens nicht als Utopie, sondern als Chance. Gerade ist sein Buch „Food Code: Wie wir in der digitalen Welt die Kontrolle über unser Essen behalten“ erschienen, das der 37-Jährige zusammen mit dem Wirtschaftsjournalisten Olaf Deininger verfasst hat.

 

 

Bildquelle: Hendrik Haase, © Fotografin Anika Mester

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