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Perspektive

Prof. Dr. Dr. Sascha Venturelli: „Ernährung hat auch therapeutisch großes Potenzial“

In 30 Jahren Ernährungsforschung hat sich viel getan: Von funktionellen Lebensmitteln über die Nutrigenomik hin zur personalisierten Ernährung – um nur einige Aspekte zu nennen. Herr Professor Venturelli, was sind Ihrer Meinung nach die größten Schritte oder bedeutendsten Erkenntnisse der letzten drei Jahrzehnte in der Ernährungsmedizin?

Ein Highlight war und ist die Mikrobiom-Forschung, die untersucht, wie Ernährung, Verdauung und Gesundheitszustand zusammenhängen. Es wurde ein Markt für Nahrungsergänzungsmittel geschaffen, mit denen es möglich ist, die Darmflora aktiv zu modulieren – die Prä- und Probiotika. Ein anderes großes Thema ist die Untersuchung von ernährungsinduzierten Erkrankungen. Die BSE-Krise gab dafür einen wichtigen Anstoß: Als vor über 20 Jahren die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE) bei einem Rind in Deutschland gefunden wurde, machte die wissenschaftliche Hypothese, dass die im Fleisch enthaltenen Prionen beim Verzehr auf den Menschen übertragen werden und eine Variante der Creutzfeld-Jacob-Erkrankung auslösen können, Schlagzeilen. Die Gesellschaft wurde plötzlich dafür sensibilisiert, dass Ernährung nicht nur Energie liefert und uns satt macht, sondern mit unserer Gesundheit eng assoziiert ist.

Welche aktuellen Antworten liefert die Ernährungsforschung zur Frage der Prävention, aber auch Therapie von Erkrankungen?

Bei den kardiovaskulären Erkrankungen, die hierzulande häufigste Todesursache sind, spielen Ernährung sowie Bewegung eine wichtige Rolle in der Prävention. So lässt sich das Risiko für eine koronare Herzerkrankung deutlich verringern, wenn wir weniger Transfette und gleichzeitig mehr Omega-3-Fettsäuren zuführen, z. B. in Form von fettem Fisch, sowie mehr Sport treiben. Das ist mittlerweile Lehrbuchwissen und in der Gesellschaft angekommen. In der Corona-Pandemie ist noch einmal deutlich geworden, wie essenziell ein robustes Immunsystem für die Prävention von Erkrankungen ist. Dazu kann die Supplementierung von Vitaminen, u. a. Vitamin C und Vitamin D beitragen. In Abhängigkeit von der Grunderkrankung hat die Ernährung auch therapeutisch großes Potenzial: Adipositas, Bluthochdruck oder Diabetes sind prädestiniert für diätetische Maßnahmen. Bei einer fortgeschrittenen/manifesten Tumorerkrankung ist der Einfluss der Ernährung meist limitiert – und doch gibt es gelegentlich überraschende Erkenntnisse.

Wie viel „Ernährungswissenschaft“ ist im Laufe der Zeit in die „Schulmedizin“ eingegangen?

Die Ernährungswissenschaft ist zunehmend in der Schulmedizin integriert – eine Entwicklung, die ich sehr begrüße. Aber es gibt langfristig noch Luft nach oben. Wir haben an der Universität Hohenheim zusammen mit Kollegen aus ganz Europa und den USA an einem Online-Lernmodul mitgearbeitet, das wichtige Aspekte der Ernährungsmedizin für Medizinstudierende beinhaltet. Das Feedback nach dem ersten Testlauf war äußerst positiv. Langfristig ist geplant, das Ganze auszuweiten, so dass Ernährung im Curriculum für Medizinstudierende eine größere Rolle einnimmt.

Wie ist der Stand der Forschung zu Nahrungsmitteln bzw. Inhaltsstoffen, die das Leben verlängern? Können wir eines Tages auf ein Superfood hoffen, das uns gesund altern lässt?

Es werden immer wieder Substanzen als lebensverlängernd diskutiert, u. a. Resveratrol, ein in Rotwein vorkommendes Polyphenol. Im Jahr 2003 ist eine Publikation in der äußerst renommierten Fachzeitschrift "Nature" erschienen, in der gezeigt wurde, dass Resveratrol in einem Modellorganismus, der Hefe, deren Lebensspanne um 70% verlängerte.1 Dabei ahmt Resveratrol durch Sirtuin-Stimulierung eine Kalorienrestriktion nach, die in verschiedenen Organismen den Alterungsprozess verlangsamt. Auf den menschlichen Organismus übertragen, glaube ich nicht, dass die Supplementierung eines singulären Wirkstoffes ausreicht, um länger zu leben. Vermutlich ist es die Kombination aus gesunder Ernährung, Supplementierung von bestimmten Faktoren und sportliche Aktivität. Hinzu kommen genetische Faktoren, die Sie nicht beeinflussen können.

Hat sich Ihr eigenes Ernährungsverhalten anhand der Erkenntnisse, die Sie gewinnen konnten, im Laufe der Jahre verändert?

Natürlich wird man durch die eigene Forschungsarbeit sensibilisiert. Beispielsweise war ich früher gar kein Biertrinker. Seitdem wir aber u. a. zu Hopfeninhaltsstoffen forschen und in Studien festgestellt haben, dass spezifische Flavonoide aus dem Hopfen das Immunsystem stimulieren und Tumorzellen im Wachstum behindern können,2,3 trinke ich mit Freunden gelegentlich sehr gern ein Bier – auch alkoholfrei. Außerdem versuche ich mich halbwegs gesund zu ernähren, sehe aber leider noch Optimierungsbedarf, z. B. weniger Zucker, mehr Ballaststoffe, mehr frisches Obst und Gemüse.

Sie sind Naturwissenschaftler und Mediziner: Inwieweit prägt der erweiterte Blick Ihre eigenen Forschungen im Bereich der Ernährung?

Das Zusammenspiel von Organismus, Stoffwechsel, Ernährung und Gesundheit ist äußerst komplex und viele weitere Faktoren kommen hinzu, wie Genetik, Epigenetik, Psyche und Umwelteinflüsse. So dass ich trotz der fächerübergreifenden akademischen Ausbildung, nur Teilaspekte betrachten kann. Selbst wenn man versucht, sich breit aufzustellen, fehlt in vielen Bereichen das Fachwissen. Daher empfinde ich es als immens bereichernd, ein interdisziplinäres Team zu haben. In meinem Fall gehören eine Ernährungswissenschaftlerin, eine Biologin, ein Pharmazeut, ein Biochemiker, ein Intensivmediziner und seit kurzem sogar ein Zahnarzt dazu. Es ist spannend zu erleben, wie eine wissenschaftliche Frage von jedem Einzelnen aus einer anderen Perspektive betrachtet wird. Bei jedem Lab-Meeting lerne ich dazu.

Herr Professor Venturelli, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch!

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Sascha Venturelli

leitet seit Oktober 2019 das Fachgebiet "Biochemie der Ernährung" am Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Hohenheim. Zu den Forschungsschwerpunkten des 44-Jährigen gehört die Identifizierung und Charakterisierung von bioaktiven Naturstoffen und Nahrungsmittel-Inhaltsstoffen, welche die zelluläre epigenetische Regulation beeinflussen, Seneszenz in Tumorzellen auslösen oder modulierend auf das humane Immunsystem einwirken. Der Biologe und Mediziner hat u. a. neue Wirkstoffe für die Krebstherapie identifiziert und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.

 


1 Howitz KT, Bitterman KJ, Cohen HY, et al. Small molecule activators of sirtuins extend Saccharomyces cerevisiae lifespan. Nature 2003;425(6954):191-6.

2 Venturelli S, Burkard M, Biendl M et al. Prenylated chalcones and flavonoids for the prevention and treatment of cancer. Nutrition. 2016;32(11-12):1171-8.

3 Venturelli S, Niessner H, Sinnberg T et al. 6- and 8-Prenylnaringenin, Novel Natural Histone Deacetylase Inhibitors Found in Hops, Exert Antitumor Activity on Melanoma Cells.  Cell Physiol Biochem. 2018;51(2):543-556.

 

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