
Perspektive
Kurze Wege zur Diagnose: was Digitalisierung leisten kann
Herr Professor Mücke, Sie sind der erste Lehrstuhlinhaber für „Digitale Allgemeinmedizin“ in Aachen. Was war der Anlass für die Einrichtung des Lehrstuhls und woran werden Sie forschen?
Die Uniklinik RWTH Aachen ist das Universitätsklinikum einer Technischen Hochschule und bietet dadurch zahlreiche Schnittstellen zur digitalen Welt. Somit gibt es für die Medizin viele Möglichkeiten des Blickes über den Tellerrand und der Zusammenarbeit. Die Hausarztpraxen sind digital noch überwiegend konservativ aufgestellt. Vieles läuft telefonisch oder per Fax. Das hat zahlreiche Gründe, die nicht allein im Verantwortungsbereich der Hausärzt:innen liegen. In jedem Fall war es für die innovative Uniklinik in Aachen attraktiv, die Allgemeinmedizin mit der Technik zusammenzubringen, um für die Praxen Fortschritte zu erzielen. Mein Forschungsbereich ist unglaublich breit. Wir beschäftigen uns damit, die Praxis in allen Richtungen zu digitalisieren. Das beginnt z. B. mit dem Anmeldeprozess. Ziel ist es aber, Patient:innen digital durch die ganze Arztpraxis zu begleiten. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt wird für mich die Verkürzung der Diagnosezeit für Patient:innen mit seltenen Erkrankungen sein. Hier kann die „künstliche Intelligenz“ (KI) wesentliche Fortschritte bringen.
„Mit dem Lehrstuhl werden Impulse gesetzt“
Sie führen selbst eine Hausarztpraxis. Wie sehen Sie den aktuellen Grad der Digitalisierung in Ihrer Praxis im Vergleich zu anderen?
Wie die meisten Praxen sind wir bereits an die elektronische Patientenakte (ePA) angeschlossen. Nutzen können wir sie nicht, da die Inbetriebnahme stets verschoben wird. Inzwischen ist die ePA aus meiner Sicht nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Technik. Einige Praxen nutzen wie wir bereits eine digitale Terminvereinbarung. Bei uns werden auch die Bilddaten, z. B. vom Ultraschallgerät, in der Patient:innenakte digital hinterlegt. Unsere Praxis ist weitgehend papierlos. Aber es sind noch nicht alle Prozesse digitalisiert. Es wäre beispielsweise wünschenswert, dass die Patient:innen eine Nachricht auf ihr Handy bekommen, wenn sich bei uns der Termin verzögert. Dann müssen sie nicht lange warten, sondern können vorher noch etwas erledigen. So weit sind wir aber noch nicht. Wir können diesbezüglich viel vom Maschinenbau und seinem Prozessmanagement lernen. Nicht alle Kolleg:innen sind technikaffin. Besonders für Kolleg:innen, die in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen möchten, lohnt der Ausbau der Digitalisierung oft nicht mehr. Die Digitalisierung erfordert eine Umstellung und verursacht zudem auch Kosten.
Sind das die größten Hürden der Digitalisierung – Umstellungszeit und Kosten?
Das kann man schon sagen. Die Anpassung wird Arztpraxen allein dadurch erschwert, dass es so viele unterschiedliche Praxissysteme gibt: Während Kliniken nur zwischen 3 bis 4 verschiedenen Informationssystemen wählen können, tummeln sich im Praxisbereich zahlreiche Anbieter, die alle untereinander oft nicht kompatibel sind. Zur Einbindung eines neuen Ultraschallgerätes muss dann für jede Schnittstelle Geld in die Hand genommen werden. Die zweite große Hürde ist immer wieder der Datenschutz. Patient:innen müssen wegen jeder Kleinigkeit aufgeklärt werden. Das ist gut und richtig. Aber viele Patient:innen wollen dann nicht mehr teilnehmen, stimmen nicht zu. Das bringt so manchen Ablauf durcheinander.
„Deutschland ist ein Fax-Land – aus rechtlichen Gründen“
Was müsste geschehen, um die Hürden abzubauen?
In Bezug auf den Datenschutz müssten die rechtlichen Aspekte für die Medizin angepasst werden. Wenn Patient:innen aktuell ihre Labordaten per E-Mail haben wollen, benötige ich eine spezielle, sichere E-Mail-Adresse. Stellen mir Patient:innen ihre Fragen elektronisch, so muss ich diese, rechtlich gesehen, ausdrucken und schriftlich – per Brief – beantworten. Auch für die Forschung spielt der Datenschutz immer wieder eine Rolle. Wir haben gute Daten zu Erkrankungen, die in der Klinik behandelt werden. Die Anonymisierung in der Arztpraxis führt dazu, dass wir sehr wenige Daten aus der Praxis haben. Forschung ist so nur sehr eingeschränkt möglich. Eine einheitliche Praxis-Software wäre hier sicherlich wünschenswert. Daran müssen wir arbeiten.
Wo sehen Sie wesentliche Vorteile der Digitalisierung für die Patient:innen?
Ich würde das unter dem Stichwort „informierte Patient:innen“ zusammenfassen: Die Digitalisierung würde beispielsweise ermöglichen können, dass Patient:innen ihre Laborwerte mit einer Einordnung der Werte elektronisch erhalten. Dazu braucht bei unauffälligen Werten kein zusätzlicher Besprechungstermin vereinbart zu werden. Die Ergebnisse sind schneller zur Hand. Ich denke auch an die virtuelle Sprechstunde und die Telemedizin. Das erspart Patient:innen Fahrtwege und Zeit. Wir Ärzt:innen können auch viel über E-Health und die sogenannten Wearables erfahren, also beispielsweise Blutdruckwerte und Bewegungsprofile abfragen und Schlüsse daraus ziehen. Bei vielen Patient:innen ist der Blutdruck zu Hause in Ordnung, in der Praxis aber zu hoch. Für die/den Anwendende/n ist die Datenerhebung einfach und sie/er zieht Nutzen aus unserer Diagnose.
„Mein Steckenpferd sind Patient:innen ohne Diagnose“
Sie sprachen über Vorteile der Digitalisierung bei der Verkürzung der Diagnosezeit. Wie kann das funktionieren?
Es gibt zahlreiche Patient:innen ohne Diagnose, meist solche mit seltenen Erkrankungen. Das spielt in der Hausarztpraxis eine große Rolle. Gemeinsam mit unseren Kollegin:innen der Universität in Bonn arbeiten wir z.B. an einem Fragebogen-gestützten Diagnoseprozess, der elektronisch erfolgt. Die Patient:innen beantworten uns also einen Fragen-Katalog und eine KI kann unterscheiden, ob es sich voraussichtlich um eine chronische oder eine häufige chronische Erkrankung handelt bzw. ob diese selten oder psychosomatisch bedingt ist. Das Tool kann bereits heute schon gut unterscheiden, in welchen Bereich die seltene Erkrankung fällt: Ist es eine Stoffwechsel-, Muskel- oder Lungenerkrankung? Neben diesen Fragebogen gestützten Verfahren können aber auch Bilder beim Diagnoseprozess helfen. So können beispielsweise Schmerzzeichnungen genutzt werden um krankheitsspezifische Muster zu erkennen. Die/der Patient:in muss hierfür lediglich in einer Grafik ihre/seine Schmerzlokalisation einzeichnen. Ein weiteres interessantes Diagnosetool, das wir einsetzen, kann mithilfe von Fotos z. B. von fazialen Dysmorphien auf eine zugrundeliegende genetische Erkrankung hinweisen. Wir füttern dazu international eine Datenbank mit Gesichtsbildern, bei denen vom Phänotyp auf den Genotyp geschlossen werden kann.
Wie lange wird es dauern, bis Bilderkennungsverfahren in der Hausarztpraxis eingesetzt werden können?
Von der Praxistauglichkeit sind wir gar nicht nennenswert weit entfernt. Ich denke, in den kommenden fünf Jahren könnte das in der Praxis eingesetzt werden. Wir kooperieren eng mit den Selbsthilfegruppen für seltene Erkrankungen und können das System mit Beispielen füllen.
„Wir arbeiten an einem „Show-Room“
Die Digitalisierung nimmt also Fahrt auf. Wie setzen Sie das in der Lehre um?
Auch daran arbeiten wir intensiv. Im Moment ist der Aufbau einer digitalen Praxis, ein Show-Room, in Planung. Die Student:innen und interessierte Ärzt:innen können so an die „digitalen“ Möglichkeiten herangeführt werden. Das soll ihr Interesse wecken und sie technik-affin machen. Es ist wichtig, die Digitalisierung in das Curriculum des Studiengangs Humanmedizin mit aufzunehmen, um die Rahmenbedingungen für die Lehre zu schaffen.
Herr Professor Mücke, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Prof. Dr. Martin Mücke führt eine Hausarztpraxis in Bonn, hat seit dem 1. Oktober 2021 den Lehrstuhl für Digitale Allgemeinmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen inne und leitet das hiesige Zentrum für Seltene Erkrankungen in Aachen. Er ist Experte für seltene Erkrankungen und arbeitet daran, die Diagnose-Zeiten für die Patient:innen zu reduzieren. Um mehr Aufmerksamkeit für die „Seltenen“ zu gewinnen, engagiert sich Prof. Mücke gemeinsam mit der Schauspielerin und Regisseurin Esther Schweins für einen Podcast: „Unglaublich krank – Patienten ohne Diagnose“ heißt die Serie, die sich regelmäßig über etwa 45 Minuten mit ungewöhnlichen Patient:innenfällen beschäftigt.