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Perspektive

Mit Geduld und Spucke – Hausärzt:innen in der Lebensstilberatung

Herr Dr. Dr. Schlüter, Sie haben sich intensiv mit der Lifestyleberatung auseinandergesetzt. Wie stellt sich aus Ihrer Sicht die aktuelle Situation in Hausarztpraxen dar?

Das Angebot an Ernährungs- und Lebensstilberatung ist in Hausarztpraxen (leider) gering. Dafür gibt es mehrere Gründe. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass es eine frustrierende Aufgabe ist. Ich habe vor einigen Jahren damit begonnen, ein Konzept für eine Ernährungsberatung zu entwerfen. Innerhalb von vier 90-minütigen Gruppensitzungen habe ich Interessierten Ernährungswissen vermittelt, bin mit ihnen einkaufen gegangen, habe sie auf Zutatenlisten auf Fertigprodukten hingewiesen und sie motiviert, sich mehr zu bewegen. Die meisten Teilnehmenden habe ich immer dann verloren, wenn sie begriffen, dass sie selbst etwas verändern müssen. Es sind nur wenige bei der Stange geblieben. Es erfordert viel Einsatz für wenig Erfolg.

Warum haben Sie sich berufen gefühlt, eine Lebensstilberatung anzubieten?

Dafür gab es zwei Gründe. Einerseits habe ich es als Hausarzt als meine medizinische Pflicht gesehen, Patient:innen mit Bluthochdruck, Adipositas und metabolischem Syndrom vollumfänglich zu beraten und ihnen Wege aus dem Teufelskreis von ungesunder Ernährung und Bewegungsmangel zu weisen. Andererseits wollte ich mich gegen den von manchen Seiten gegen Hausärzt:innen vorgebrachten Vorwurf wehren, mir keine Zeit für Beratung zu nehmen.

„Auf Lebensstilberatung schlecht vorbereitet“

Warum sehen Sie die Aufgabe bei den Hausärzt:innen?

Hausärzte und Hausärztinnen haben einen großen Pool an potenziellen Kandidat:innen für eine Lebensstilberatung. Ich habe mein Angebot damals über Aushänge in der Praxis bekannt gemacht. Die Beratungsstunden waren aber offen für alle Interessierten. Meine Patient:innen haben das Angebot an Bekannte weitergegeben. So konnte ich einige Kurse füllen. Allerdings muss ich sagen, dass das Medizinstudium nicht gut auf die Aufgabe vorbereitet. Es gibt keine hinreichende ernährungsmedizinische Ausbildung. Außerdem fehlt uns ein Kommunikations-Handwerkskoffer. Das Engagement beruht sehr auf Eigeninitiative. Es gibt inzwischen Ansätze an den Universitäten, die Situation zu verbessern. Allerdings schätze ich die aktuelle Lage kaum besser ein, als sie zu meiner Studienzeit war.

Gibt es bezüglich der Lebensstilberatung Unterschiede zwischen Landarzt- und städtischen Praxen?

 Ja, ein wenig schon. In Städten ist es sicher leichter, an die Klientel heranzukommen. Es gibt eine höhere Dichte an Patient:innen, die etwas verändern müssen und möchten. Auf dem Land – so ist mein Gefühl – gibt es auch mehr Patient:innen, die sich noch „natürlich“ ernähren. Sie leben im Schnitt gesünder. Der Bedarf wird auf dem Land geringer sein. Hinzu kommt, dass es in der Stadt mehr Einkaufs- und Bewegungsangebote gibt. Das erhöht die Möglichkeiten.

 „Jeder Erfolg zählt und motiviert“

 Sie sprachen von mehreren Gründen, die das Engagement in der Lebensstilberatung begrenzen. Welche weiteren Hürden gibt es? 

 Die Ernährungsberatung erfordert einen großen Aufwand, der weder durch die Beiträge der Teilnehmenden noch durch eine adäquate Vergütung seitens der gesetzlichen Krankenversicherungen abgedeckt wird. Für die Schulungen werden Räumlichkeiten benötigt. Bei mir konnte das große Wartezimmer umgestaltet werden. Darauf können nicht alle Kolleg:innen zurückgreifen. Außerdem habe ich Lebensmittel für die Schulungen eingekauft, um nur einige Kostenfaktoren zu nennen. Darüber hinaus mangelt es an einem umfassenden Konzept. Ich halte es für sinnvoll, zusammen mit den gesetzlichen Krankenversicherungen, Sportlehrer:innen, Ernährungsberater:innen und Ärzt:innen an einem Strang zu ziehen und etwas auf die Beine zu stellen, was nachhaltig wirksam und validiert ist. 

Was sind die positiven Momente in der Lebensstilberatung?

Das sind eindeutig die Erfolge. Zurückblickend habe ich es geschafft, knapp jeden 10. Teilnehmenden erfolgreich und langfristig zu mehr Bewegung und einer besseren Ernährung zu motivieren. Ich bin auf jeden Einzelnen und jede Einzelne stolz, auch wenn ich mir mehr erhofft habe. Teilweise habe ich heute noch Kontakt zu ihnen. Daher weiß ich, dass sie dabeigeblieben sind, in der Natur zu laufen. Selbst das Gewicht konnten die meisten halten. Ich kann nur raten, sich an jeder und jedem Einzelnen, die/den man zu einer Lebensstiländerung motivieren konnte, zu erfreuen.

„Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung“

Was wünschen Sie sich zukünftig für die Lebensstilberatung?  

Ich würde mir wünschen, dass Ernährungsberatung einen größeren Stellenwert im Medizinstudium bekommt. Außerdem sollte das rhetorische Handwerkszeug zur Vermittlung einer gesunden Lebensweise in das Curriculum aufgenommen und nicht als freiwillige Abendveranstaltung angeboten werden. Darüber hinaus halte ich ein Konzept, das womöglich von den Krankenversicherungen für Versicherte mit einem Body Mass Index von 35 bis 40 kg/m2 angeboten wird, für eine gute Entwicklung. Hausärzt:innen sollten darin eine bedeutende Rolle spielen. Sie können den Patient:innen einen Grund liefern, warum sie sich um eine Änderung des Lebensstils bemühen sollten. Hausärzt:innen können mit Blutdruck- und Laborwerten argumentieren und haben den Kontakt zu den Patient:innen. Es sollte sich um ein langfristig angelegtes Konzept handeln, das nachhaltig wirkt und die Leute bei der Stange hält. Lebensstilberatung sehe ich inzwischen als Teamarbeit, bei der Ärzt:innen eine bedeutende Rolle spielen. Menschen brauchen Begleitung und ein Gemeinschaftserlebnis zur Motivation. Ich wünsche mir zukünftig mehr ernsthafte Anstrengungen von allen Seiten.

Herr Dr. Dr. Schlüter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

 

 

Dr. Dr. Peter Schlüter führt eine Hausarztpraxis in Hemsbach (bei Heidelberg) und ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren. Er ist außerdem Berater für Praxisorganisation, Praxismanagement und Abrechnung. Er hat umfangreiche Erfahrung in der Durchführung von Lebensstilberatungen in Gruppen von 10 bis 15 Personen. Das Konzept hierzu hat er selbst entworfen und über einen längeren Zeitraum verfolgt. Ernährungs- und Lebensstilberatung ist für ihn eine Herzensangelegenheit und Herausforderung.  

 

Bildquelle: © StockPhotoPro / AdobeStock

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