
Perspektive
Pandemie der Pfunde: Jetzt haben wir mehr Kalorien auf dem Tisch
Herr Dr. Profeta, Sie haben während der ersten Zeit der Pandemie deren Auswirkungen auf Einkauf und Ernährungsverhalten der Deutschen untersucht. Was war Ihre wesentliche Erkenntnis?
Mit Beginn der Pandemie wurde in Deutschland mehr gegessen und die Kalorienaufnahme hat sich erhöht. Inzwischen können wir das an einer Zunahme des Body Mass Indexes (BMI) gut erkennen. Die Außer-Haus-Verpflegung in Kantinen oder Schulmensen lag brach. Plötzlich musste sich jede:r selbst versorgen. Das war oft eine Umstellung. Gleichzeitig waren wegen des Lockdowns die Möglichkeiten, sich zu bewegen, eingeschränkt. Turnvereine und Studios blieben geschlossen. Die Chance, in der Natur Sport zu treiben, hatten nicht alle. Besonders betroffen waren die Kinder.
Welche Gründe konnten Sie für die erhöhte Kalorienaufnahme ausmachen?
Um sich vor dem Virus zu schützen, haben viele Menschen seltener eingekauft, dafür aber mehr. In unserer Studie gaben 31,4 % der Befragten an, sich mit Lebensmitteln zu bevorraten. Es wurde bevorzugt zu haltbaren Produkten gegriffen, neben Nudeln und Reis waren das häufig vorverarbeitete Lebensmittel, Convenience-Food. Zusätzlich wurden mehr Süßwaren gekauft und oft auch mehr Alkohol, dafür weniger (teures) Fleisch und frisches Obst und Gemüse. Gerade zu Beginn der Pandemie steckte die Angst dahinter, am nächsten Tag vielleicht nichts mehr zu bekommen. Immerhin jede:r fünfte Deutsche hatte diese Befürchtungen. Wir konnten beobachten, dass viele Menschen in mehrfacher Hinsicht mit der Ernährung überfordert waren. Das beginnt mit einer nachlassenden Kompetenz in der Nahrungszubereitung – ein Trend, der schon vor der Pandemie begonnen und den Verzehr von Convenience-Food beflügelt hatte. Und es endet mit einer Stressreaktion: Arbeiten im Homeoffice, keine Arbeit mehr, die Kinder zu Hause, Beschulen der Kinder – und dann auch noch kochen. Der Griff zum kalorienreichen Snack oder vorbereiteten Essen war da wohl eine Erleichterung.
Sie sprechen von Familien mit Kindern. Waren Familien ohne Kinder weniger von einem veränderten Einkaufs- und Ernährungsverhalten betroffen?
Ja, das kann man so feststellen. Zu viele Kalorien gab es besonders in Haushalten mit Kindern und solchen, die wegen Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit Einkommensverluste hinnehmen mussten (Abb. 1). Personen, die ihre Arbeit gut im Homeoffice erledigen konnten, weiterhin ihr Geld verdienten, waren viel seltener von ungünstigen Verhaltensweisen in Bezug auf Einkauf und Ernährung betroffen. Meist waren dies Menschen mit höherem Bildungsstand, gutem Einkommen und auch solche ohne Kinder im Haushalt. In diesen Haushalten wurde teilweise das Kochen neu entdeckt. Einige ernährten sich gesünder als zuvor.
War das ein deutsches Phänomen?
Nein, auf gar keinen Fall. Wir haben zeitgleich Erhebungen in vielen europäischen Ländern, darunter Italien, Frankreich, Spanien, Dänemark, Slowenien und noch einigen mehr, durchgeführt. Sie zeigen alle denselben Trend.
Gab es auch positive Trends?
Ja, die gab es tatsächlich. Eine relativ große Gruppe von Befragten gab an, weniger Lebensmittel wegzuwerfen. Das waren immerhin 26 % der Studienteilnehmer:innen. Der Grund dafür liegt in einer besseren Haushaltsplanung. Es wurden mehr Einkaufslisten geschrieben und Mahlzeiten im Voraus geplant.
Sie haben aus den Erkenntnissen ein paar Forderungen u. a. an die Politik abgeleitet. Welche sind dies?
Das ist richtig. Es sind Forderungen an die Politik, Industrie und Forschung. Es ist offensichtlich, dass allein der Faktor „Kind“ dazu führt, dass sich der Ernährungsstil im Haushalt in einer Pandemie-Situation verschlechtert. Eine Forderung ist es daher, Schulschließungen unter allen Umständen zu vermeiden. Kinder, die an einer Außer-Haus-Verpflegung teilnehmen, müssen dieses Angebot unbedingt weiter bekommen.
Hier schließt sich die Forderung an die Industrie an: Die Qualität der Schulverpflegung bzw. Gemeinschaftsverpflegung im Allgemeinen kann deutlich gesteigert werden. Mehr schonende und bessere Produktionsverfahren wären sinnvoll. Mehr frische, gesunde und genussvolle Lebensmittel und Speisen sollten im Fokus stehen. Behörden sollten die Qualität mehr kontrollieren. Statt „gut und günstig“ sollte es „qualitätsvoll“ heißen.
In diesem Zusammenhang möchte ich die notwendige Forschungsförderung ansprechen, die mehr Erkenntnisse zur Produktion nachhaltiger, gesunder Lebensmittel liefern sollte.
Ärzt:innen, allen voran die Pädiater:innen, und Apotheker:innen könnten übrigens helfen und diese Forderungen unterstützen, indem sie mit den Eltern darüber ins Gespräch kommen. Da ist jede:r gefragt.
Was meinen Sie: Werden der Trend zur „Überernährung“ und zu Fertiggerichten auch nach der Pandemie anhalten?
Die Pandemie dauert nun schon eine gewisse Zeit und ist noch nicht vorbei. In dieser Zeit haben sich Gewohnheiten eingeschlichen, die vielleicht unumkehrbar sind. Den Trend zu Fertiggerichten gab es schon vorher. Er hat sich durch die Pandemie nur beschleunigt. Wir wären ohnehin vermutlich irgendwann bei dieser Menge angekommen. Ob sich daran etwas ändert, möchte ich fast bezweifeln. Deshalb ist es gut, wenn die Produkte einfach besser werden.
Herr Dr. Profeta, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Quellen:
1. Profeta A, Enneking U, Smetana S, et al. Der Einfluss der Corona-Pandemie auf den Lebensmittelkonsum der Verbraucher. Berichte über Landwirtschaft 2021;99:https://doi.org/10.12767/buel.v99i1.334
Dr. habil agr. Adriano Profeta ist Leiter der Arbeitsgruppe Konsumentenforschung am Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik e. V. (DIL) in Quakenbrück. Das Institut beschäftigt sich mit der Entwicklung und Reformulierung von Produkten der Ernährungs- und Landwirtschaft mit dem Ziel, nachhaltiger und gesünder zu produzieren sowie weniger Abfall entstehen zu lassen. Von Insekten-Burgern bis zur Hafermilch stehen bei Dr. Profeta Beweggründe und Machbarkeit auf dem Prüfstand. Die vorliegende Covid-19-Studie wurden zusammen mit der LI FOOD (www.li-food.de) durchgeführt.
Bildquelle: © Twitter: DIL – Deutsches Institut für Lebensmitteltechnik e.V.