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Wissensvorsprung

Psychobiotika – gut für den Darm, gut fürs Hirn

„Alle Krankheit beginnt im Darm“, soll Hippokrates bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. formuliert haben.1 Gut beobachtet, aber nicht belegt. Seit einiger Zeit erhärtet sich jedoch der Verdacht, dass nicht nur der Darm allein, sondern besonders das Darm-Mikrobiom weitreichenden Einfluss auf das Wohlbefinden von Mensch und Tier hat.1,2 Doch wie stellen Bakterien, Viren, Pilze & Co. es an? Die aktuelle Forschung setzt sich mit den Mechanismen auseinander und erkennt ganz neue Zusammenhänge: Ein verändertes Mikrobiom kann an Neurodegeneration und -inflammation beteiligt sein, womöglich bei Depression und Autismus eine Rolle spielen.3 Ob die (Wieder-)Herstellung einer Mikrobiom-Balance therapeutische Effekte haben kann? 

 

Das Mikrobiom – mehr als nur an Ernährung beteiligt 

Im Darm tummeln sich 10 bis 100 Billionen Mikroorganismen – mehr als es Körperzellen gibt – mit einem Gesamtgewicht von rund 2 kg.3 4 Millionen unterschiedliche Gene, etwa 100-mal so viele wie das menschliche Genom aufweist, befinden sich im Darmlumen. Bislang bestand die Hauptrolle der Mikrobiota gemäß Lehrmeinung darin, sich am Stoffwechsel zu beteiligen, Vitamine zur Verfügung zu stellen und insbesondere nicht-kommensale Mikroorganismen in Schach zu halten. Mit Hilfe der Mikrobiota bleibt das aktive System aus sich stets erneuernden Enterozyten, Mukus und darmassoziiertem Immunsystem intakt. Der Darm kann seine Torwächterfunktion optimal wahrnehmen.

 

Mikrobiom unterliegt Lebenszyklus

Meist handelt es sich bei den Darmbakterien um Vertreter der beiden Anaerobier-Stämme Bakterioidetes oder Firmicutes. Das Verhältnis der beiden Stämme zueinander scheint bedeutsam zu sein, denn bei Übergewicht kann die Ratio als relevanter Biomarker für eine Dysbiose gelten. Im Laufe des Lebens ändert sich die Zusammensetzung des Mikrobioms: Etwa bis zum 3. Lebensjahr hat sich die kommensale Darmflora eines Individuums vollständig ausgebildet. Danach kommt es zu graduellen Anstiegen von Bakterioides und Clostridien. Hundertjährige weisen eine Fülle an Enterobakteriaceae auf.4-5 Einfluss auf das Mikrobiom haben die Ernährung, Antibiotika, Infektionen und beispielsweise Stress.

 

Darm-Hirn-Achse funktioniert auf mehreren Ebenen

Die tatsächliche Bedeutung des Mikrobioms zeigt sich dann, wenn die Mengenverhältnisse der einzelnen Mikroorganismen aus der Norm geraten. Die Darm-Mikrobiota produziert und setzt Stoffe frei, die als Neuromediatoren verstanden werden können. Kurzkettige Fettsäuren, aromatische Aminosäuren und sekundäre Gallensäuren sind Beispiele hierfür. Bakterien können aber auch Neurotransmitter produzieren. So setzt E. coli Dopamin, Serotonin und Noradrenalin frei, während Laktobazillen Serotonin, GABA, Acetylcholin und Histamin abgeben können.6-8 Auch die durch Mikrobiota ausgelöste Produktion von Darm-Hormonen wie GLP-1 und Leptin haben Einfluss auf das Gehirn. Hier schließt sich der Kreis über den Nervus vagus, der das enterische mit dem zerebralen Nervensystem verbindet. Darm und Gehirn hängen also auch über das Mikrobiom zusammen – aus der Darm-Hirn-Achse wird eine Mikrobiom-Darm-Hirn-Achse.

 

Dysbalance triggert neurologische Erkrankungen    

Bei einer Dysbalance des Mikrobioms kann auch das Nervensystem betroffen sein. Es wird postuliert, dass die Permeabilität der Darmbarriere bei einer Dysbiose erhöht ist. Dies hat Einfluss auf die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke, die ebenfalls durchlässiger wird.3 Es gibt Belege, dass M. Alzheimer, M. Parkinson und Multiple Sklerose (MS) dadurch häufiger werden. Durch die Dysbiose und die dadurch gestörte Darmbarriere soll es bei M. Alzheimer zur Aktivierung des Immunsystems und systemischen sowie Neuro-Inflammationen kommen. Dadurch soll unlösliches Amyloid-beta vom Immunsystem als fremd erkannt werden. Der hirnschädigende Stoff akkumuliert in Plaques. Im Darm der Patient:innen ist ein Shift in Richtung der Bakterioidetes festzustellen. Vergleichbare Zusammenhänge sind bei M. Parkinson und MS zu beobachten. Patient:innen mit M. Parkinson haben unverhältnismäßig viele Enterobaktericeae im Darm, dazu häufig eine H. pylori-Infektion im Magen. MS-Patient:innen fallen durch hohe Zahlen an Bakterioidetes, Clostridien und Faecalibakterien und einige andere auf. Patient:innen mit Depressionen haben ebenfalls eine Verschiebung hin zu den Bakterioidetes. Ihnen fehlen Bifidobakterien und Laktobazillen, von denen Patient:innen mit Autismus eher zu viele haben.3,9

 

Psychobiotika bei neurologischen Erkrankungen

Die Optimierung der Zusammensetzung des Mikrobioms scheint demnach ein guter Ansatz zur Therapie neurologischer Erkrankungen zu sein. Dies kann einerseits durch eine Ernährungsumstellung, Stuhltransplantationen oder die Gabe von Probiotika versucht werden. Probiotika können die Produktion von Neurotransmittern induzieren, die Expression von Neurotransmitter-Rezeptoren anregen und in positivem Sinn auf Entzündungen einwirken. Gleichzeitig erhöhen sie die Diversität der Mikroorganismen und die Spiegel funktioneller Metabolite (z. B. kurzkettige Fettsäuren). Probiotika, die dies vermögen, sind somit Psychobiotika.  Auch ist der Forschungsbedarf hinsichtlich der Psychobiotika-Zusammensetzung bei den unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen noch hoch.10 Wie lange und wie oft sollten sie eingenommen werden? Sicher ist ein Zusammenhang zwischen gestörtem Mikrobiom und neurologischen Erkrankungen. Bis Psychobiotika breit zum Einsatz kommen können, wird noch etwas Zeit vergehen. Eine vorsorgliche Pflege des Mikrobioms durch Probiotika kann aber heute schon prophylaktisch sinnvoll sein.

 

Quellen:

[1] Barko PC, McMichael MA, Swanson KS, et al. The Gastrointestinal Microbiome: A Review. J Vet Intern Med 2018;32:9–25

[2] Dominguez Bello MG, Knight R, Gilbert JA, et al. Preserving microbial diversity. Science 2018;362(6410):33–34

[3] Doroszkiewicz J, Groblewska M, Mroczko B. The Role of Gut Microbiota and Gut–Brain Interplay in Selected Diseases of the Central Nervous System. Int J Mol Sci 2021;22: https://doi.org/10.3390/ijms221810028

[4] Claesson MJ, Cusack S, O’Sullivan O., et al. Composition, variability, and temporal stability of the intestinal microbiota of the elderly. Proc Natl Acad Sci 2011;108:4586–4591

[5] Odamaki T, Kato K, Sugahara H, et al. Age-related changes in gut microbiota composition from newborn to centenarian: A cross-sectional study. BMC Microbiol 2016;16:90

[6] Strandwitz P. Neurotransmitter modulation by the gut microbiota. Brain Res 2018;1693:128–133

[7] Tsavkelova E, Botvinko IV, Kudrin V, et al. Detection of neurotransmitter amines in microorganisms with the use of high-performance liquid tography. Dokl Biochem 2000;372:115–117

[8] Stanaszek PM, Snell JF, O’Neill JJ. Isolation, extraction, and measurement of acetylcholine from Lactobacillus plantarum. Appl Environ Microbiol 1977;34:237–239

[9] Simpson CA, Mu A, Haslam N, et al. Feeling down? A systematic review of the gut microbiome in anxiety/depression and irritable bowel syndrome. J Affect Dis 2020;266:429–446

[10] Zou R, Tian P, Xu M, et al. Psychobiotics as a novel strategy for alleviating anxiety and depression. chromaJ Funct Food 2021;86:104718

 

Bildquelle: © Halfpoint

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