
Perspektive
„Viele Apps sind Lifestyle-orientiert, aber medizinisch wenig fundiert“
In den neun Monaten einer Schwangerschaft tauchen immer wieder neue Fragen auf. Die Antworten einfach nur zu googeln, ist keine gute Lösung. Hebammen und Ärzt:innen sind nicht rund um die Uhr verfügbar, um diese zu beantworten – digitale Gesundheitsanwendungen schon. Was können Apps für Schwangere leisten und wie findet man seriöse Anbieter?
Frau Peters, wie stark sind digitale Gesundheitsanwendungen in der Schwangerschaft gefragt und wozu werden diese eingesetzt?
Wir beobachten, dass sich Schwangere oft unsicher fühlen. Fragen rund um die Schwangerschaft bleiben häufig unbeantwortet. Einer der Gründe ist, dass traditionelles Wissen nicht mehr so verfügbar ist wie früher. Die Freundinnen haben manchmal noch keine Kinder, um über ihre Erfahrungen zu berichten. Seit die eigene Mutter Schwangerschaft und Geburt erlebt hat, sind 20 oder 30 Jahre vergangen – eine Zeitspanne, in der sich medizinisch viel getan hat. Schwangere Frauen wollen heute verstehen, was in ihrem Körper passiert, um Entscheidungen selbstbestimmt treffen zu können. Daher rührt das Bedürfnis nach digitalen Gesundheitsanwendungen, die qualitativ hochwertige Informationen liefern und darüber hinaus individuelle Fragen beantworten und Feedback geben können.
Sehen Sie darin eine Versorgungslücke, die eine Begleitung durch Ärzte oder Hebammen nicht abdecken kann?
Ja, weil es zu wenige Hebammen gibt und Ärzt:innen oft zu wenig Zeit haben. Zudem wollen Frauen ihre Schwangerschaft aktiv gestalten und jederzeit Zugang zu Informationen haben. Die Termine bei der Hebamme oder in der gynäkologischen Praxis finden jedoch zu Beginn der Schwangerschaft regelhaft nur alle vier Wochen statt. So lange wollen viele Frauen nicht warten, denn in der Zwischenzeit treten immer neue Fragen auf, wie z. B.: „Darf ich das essen?“, „Kann ich die Flugreise noch antreten?“, „Ist das Ziehen im Bauch normal?“ Außerdem müssen Schwangere weitreichende Entscheidungen treffen, z. B. ob und wie nach einer Behinderung des Kindes gesucht werden soll. Das erfordert eine gründliche Aufklärung und Beschäftigung mit dem Thema Pränataldiagnostik. Dazu können digitale Tools beitragen. Manche Frauen mit besonderen Risiken müssen während der Schwangerschaft ihren Blutdruck oder Blutzucker überwachen. Studien haben gezeigt, dass in diesen Fällen digitale Tools, welche direkt Feedback zu den Werten geben, den Schwangeren Krankenhausaufenthalte oder tägliche Fahrten zum Arzt ersparen können.1,2
Es gibt zahlreiche Angebote zur digitalen Schwangerschaftsbegleitung. Wie sollen sich Frauen – und auch Ärzt:innen und Hebammen – in dem Dschungel zurechtfinden, das heißt eine zuverlässige und nutzenstiftende Gesundheitsapp finden?
Viele dieser Apps sind Lifestyle-orientiert und unterhaltsam, aber medizinisch wenig fundiert. Krankenkassen-Apps wiederum sind oft rein informativ. Davon abzugrenzen sind Digitale Gesundheitsanwendungen, kurz DiGAs. Diese sind als Medizinprodukte zertifiziert und vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) u. a. auf Datenschutz und Benutzerfreundlichkeit, geprüft. Außerdem muss deren Nutzen in einer wissenschaftlichen Studie nachgewiesen werden. Das können medizinische Vorteile sein, z. B. weniger Schwangerschaftsbeschwerden oder Geburtskomplikationen, oder auch Erleichterungen im Alltag der Schwangeren, beispielsweise dass weniger Arzttermine wahrgenommen werden müssen. Aktuell beinhaltet das DiGA-Verzeichnis des BfArM 13 Anwendungen, darunter noch keine für die Schwangerschaft. Im Rahmen eines EFRE*-geförderten Transfer-Projekts habe ich zusammen mit Kolleg:innen an der Hochschule für Gesundheit in Bochum eine App entwickelt, welche die erste digitale Gesundheitsanwendung für Schwangere werden soll. Sie befindet sich zurzeit in der Testphase. Ich denke, Ärzt:innen, Hebammen und Therapeut:innen sollten das DiGA-Verzeichnis kennen und ab und zu reinschauen, da es sukzessive erweitert wird. Die DiGAs können übrigens wie Medikamente verschrieben werden. Die Kosten werden von den Krankenkassen übernommen.
Was kann die erste digitale Gesundheitsanwendung in der Schwangerschaft leisten, welche Unterstützung den schwangeren Frauen bieten?
Unsere App bietet neben wissenschaftsbasierten Informationen, passend zur jeweiligen Schwangerschaftswoche, eine individuelle Bewertung der Vitalwerte wie Blutdruck und Blutzucker. Die Frauen können individuelle Risiken, z. B. für eine Depression, einschätzen und sie erhalten Feedback zu ihren Symptomen und Beschwerden. Langfristig streben wir die Verknüpfung mit der digitalen Patientenakte an, so dass auch Ärzt:innen und Hebamme über die erfassten Daten informiert werden können. So werden digitale und analoge Gesundheitsversorgung miteinander verbunden.
Wohin wird die Entwicklung gehen? Wie werden digitale Tools die Schwangerschaft von Frauen verändern?
Die Vernetzung des Gesundheitssystem wird eine zunehmend größere Rolle spielen. Dabei werden digitale Versorgung und analoge Medizin immer stärker ineinandergreifen. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass auch Video-Beratungen und Geburtsvorbereitungen online möglich und erfolgreich sind. Schließlich wird die Digitalisierung die Selbstbestimmung und das Selbstmanagement der Frauen weiter fördern.
Frau Peters, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch!
Mirjam Peters hat Psychologie und Public Health studiert und fünf Jahre als freiberufliche Hebamme gearbeitet. Seit 2016 ist die 32-Jährige als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Gesundheit (hsg) in Bochum tätig, wo sie zur Qualität der Hebammenbegleitung promoviert. Im Rahmen eines vom Land NRW geförderten Transfer-Projekts an der hsg Bochum ist Mirjam Peters an der Entwicklung der ersten digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) für Schwangere beteiligt und erwartet die Ausgründung als Start-up-Unternehmen in den kommenden zwei Monaten.
* EFRE = Europäischer Fonds für regionale Entwicklung
Quellen
1. Marko KI, Ganju N, Brown J, et al. Remote prenatal care monitoring with digital health tools can reduce visit frequency while improving satisfaction [3]. Obstet. Gynecol 2016;127(Supplement 1):1S.
2. Pealing LM, Tucker KL, Mackillop LH, et al. A randomised controlled trial of blood pressure self-monitoring in the management of hypertensive pregnancy. OPTIMUM-BP: A feasibility trial. Pregnancy Hypertens 2019;18:141–9.
Bildquelle: © OliverTjaden