
Historie
Allrounder Vitamin D: Wirkweise lässt sich evolutionär erklären
Das heute für den Menschen semi-essenzielle Vitamin D3 ist so alt wie die eukaryotische Zelle. Allerdings hat es eine immense Entwicklung hinter sich gebracht und seine Aufgaben sind im Laufe der Jahrtausende immer größer geworden. Anfangs musste das auf Sterolen beruhende Vitamin auch nicht zwingend mit der Nahrung zugeführt werden. Der urbane Lebensstil und das Leben in Regionen mit wenig Lichteinstrahlung hat aus Cholecalciferol ein Vitamin gemacht. Die Vitamin-D-Historie ist spannend und macht deutlich, warum heute eine Supplementierung nicht nur für die Knochen, sondern auch für das Immunsystem und so manche andere Körperfunktion bedeutsam ist.1
Der Anfang war im Wasser
Vor über 2,45 Milliarden Jahren stieg der Anteil an molekularem Sauerstoff in der Luft drastisch an. Dies war der Startpunkt für die Entwicklung komplexer Eukaryoten. Enzyme, die sauerstoffabhängig agierten, waren an der Entstehung von Sterolen beteiligt. Allein dieser Prozess dauerte über eine Milliarde Jahre. Der aerobe Stoffwechsel führte dazu, dass Energie effizienter aus der Nahrung gewonnen werden konnte, hielt aber neue Herausforderungen bereit. Sterole gewannen eine Bedeutung für den Schutz vor Sauerstofftoxizität. Ohne den Sauerstoff hätte es also keine Sterole gegeben und es hätte ihrer vermutlich auch nicht bedurft. Sterole wurden zu wichtigen Membranbestandteilen, was auch einen wesentlichen Unterschied zu prokaryotischen Membranen darstellt.
Sterole sind nur ein Vorläufer des Vitamins
Die zahlreichen Sterole in Pilzen, Pflanzen und tierischen Zellen können ganz unterschiedliche Funktionen haben. Manche, wie das Ergosterol in Pilzen (Prävitamin D2) oder das 7-Hydroxycholesterol (Prävitamin D3), können durch UV-B-Strahlung zum aktiven Vitamin D umgebaut werden. Da hierfür keine Enzyme erforderlich sind, ist es wahrscheinlich, dass Vitamin D2 und Vitamin D3 evolutionär alte Moleküle sind und aus einem noch enzymfreien Zeitalter stammen. Und gleichzeitig erklärt sich hieraus eine wichtige Funktion der beiden Vitamine, die bereits vor etwa 750 Millionen Jahren existiert haben muss: Vitamin D2 und D3 können vor der UV-B-Strahlung schützen, und zwar die DNA und Proteine. Sowohl Vitamin-D-Vorstufen als auch deren Metabolite können die UV-B-Strahlung abfangen und so dafür sorgen, dass es nicht zur Mutagenese und zur Denaturierung der Proteine kommt.
Neue Aufgabe im Energiestoffwechsel
Vor rund 550 Millionen Jahren kam eine neue Aufgabe für Vitamin D dazu. Es entwickelte sich ein Vitamin-D-Rezeptor (VDR). Allerdings war dieser spezifisch für hydroxyliertes Vitamin D. Ein regulierter Stoffwechselweg entstand, bei dem aktives und inaktives Vitamin D eine Rolle spielte. Rezeptor, metabolisierende Enzyme und Transportproteine arbeiteten zusammen, Vitamin D übernahm eine endokrine Funktion. Das Vitamin-D-System hatte zunächst eine Detox-Wirkung. Denn die größte Herausforderung für Zellen war in dieser Zeit die Ernährung. Beim Stoffwechsel fielen Stoffe an, die eliminiert werden mussten – in Algen beispielsweise die marinen Biotoxine, bei Tieren fungierte der VDR als Gallensäure-Sensor. Zur “Detox-Wirkung” kam eine Rolle im Energiestoffwechsel dazu. So erlangte der VD-Rezeptor eine Bedeutung als Sensor für Makro- und Mikronährstoffe.
Mehr Leben, mehr Feinde
Um sich vor anderen Lebewesen zu schützen, war von jeher ein Abwehrsystem erforderlich. Die einfachste Form der Immunabwehr waren zunächst Barrieren wie die Haut oder Schleimhaut. Bereits vor etwa 500 Millionen Jahren entwickelte sich neben der angeborenen Immunabwehr aber auch schon die adaptive Abwehr. Diese erforderte zur Bildung von B- und T-Zellen viel Energie – eine Schnittstelle mit Vitamin D. Dies führte dazu, dass Vitamin D für einige Funktionen des Immunsystems essenziell wurde, beispielsweise für die Synthese des antimikrobiellen Peptids Cathelicidin oder den toll-like-Rezeptor 4 Ko-Rezeptor CD14 in Monozyten.
Last but not least: Aufgabe im Knochenstoffwechsel
Mit der Entwicklung von Knochenfischen begann die Vorbereitung des Landgangs und somit auch der Anspruch an ein stabiles Skelettsystem. Im Wasser gab es ausreichend Calcium. An Land jedoch herrschte Calcium-Mangel. Eine ausgeklügelte Regulation war vonnöten, um die intra- und extrazelluläre Calciumkonzentration zu ordnen. Vitamin D ist an der Calciumregulation, am Knochenabbau und dem -remodeling an mehreren Stellen beteiligt. Wo lag die gemeinsame Schnittstelle? Es wird wieder der hohe Energieverbrauch vermutet.
Rachitis – ein neuzeitliches Problem
Vitamin D können Menschen selbst in der Haut synthetisieren. Jedoch reicht die Menge seit der Besiedlung von Regionen oberhalb des Breitengrades 37 ° Nord und spätestens seit der industriellen Revolution nicht mehr aus. Die Veränderung des Lebensstils – Leben und Arbeiten in Innenräumen und die Besiedelung von Regionen mit zu wenig Lichteinstrahlung – hat dazu geführt, dass aus Cholecalciferol mindestens zeitweise ein Vitamin wurde, das mit der Nahrung aufgenommen werden muss. Wo das schwer möglich ist, sollte daher supplementiert werden. Denn Vitamin D wird an vielen Stellen im Organismus benötigt, die Zufuhr ist vielfach zu gering. Weltweit lebt etwa eine Milliarde Menschen mit einem Risiko einer Vitamin-D-Unterversorgung.
Abb. 1: Zunahme der Aufgaben des Vitamin D im Laufe der Zeit. Evolutionärer Druck erweitert das Spektrum.
Quellen:
[1] Carlberg C. Vitamin D in the Context of Evolution. Nutrients 2022; 14(15):3018.
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