
Perspektive
Von Mikroorganismen gesteuert: Wie Darm und Hirn sich beeinflussen (lassen)
Frau PD Dr. Stengel, Sie beschäftigen sich mit der Neurogastroenterologie. Über welche Wege hängen Darm, Nerven und Gehirn zusammen?
Im Wesentlichen sind dies zwei Wege. Der Gastrointestinaltrakt (GIT) und das Gehirn sind über den Nervus vagus miteinander verknüpft. Dieser zieht durch den halben Körper und bringt viele Fasern aus dem Magen-Darm-Trakt mit. Im Hirnstamm werden Hirnnervenkerne aktiviert, die einerseits den GIT regulieren, andererseits aber mit Hirnregionen zusammenarbeiten, die für Emotionen, Erfahrungen oder auch Stress zuständig sind. Genauso werden Stimuli aus diesen Gehirnregionen an den GIT zurückgemeldet. Ein zweiter Weg des Austausches zwischen Darm und Gehirn beruht auf der Tätigkeit des Mikrobioms. Das Mikrobiom verstoffwechselt Nährstoffe zu „Botenstoffen“ (z. B. g-Amino-Buttersäure, GABA), die einerseits vor Ort Nervenfasern erregen, andererseits aber auch in die Blutbahn abgegeben werden können. Über die Blutbahn können verschiedene Organe erreicht und angesprochen werden – auch das Gehirn.
„Wir sind von Bakterien gesteuert“
Dann spielt das Mikrobiom eine wichtige Rolle und kann die Gesundheit des Gehirns beeinflussen?
Davon müssen wir ausgehen. Wenn es von dem einen oder anderen Botenstoff mehr oder weniger gibt, könnte es sein, dass dies an dem Mikrobiom liegt. Eine Veränderung der Zusammensetzung des Mikrobioms, z. B. durch die Gabe von Antibiotika, könnte das Gleichgewicht stören und zu einem generellen Ungleichgewicht führen. Das kann Auswirkungen auf die Gesundheit haben.
Welche aktuellen Erkenntnisse zum Mikrobiom und neurologischen Erkrankungen haben Sie?
Ehrlich gesagt, haben wir begrenzte Erkenntnisse. Das Mikrobiom scheint mit Blick auf die aktuelle Forschung alle möglichen Erkrankungen zu beeinflussen. Vieles davon ist leider noch ungesichert.
Mikroorganismen befinden sich überall im GIT. Ihre Anzahl nimmt vom Mund bis zum Dickdarm zu. Ihre Zusammensetzung ist allerdings sehr variabel und interindividuell. Die Forschung dazu ist extrem komplex. So ist aktuell ist nicht genau bekannt, was als „normales“ Mikrobiom zu bezeichnen ist. Und das macht die Bewertung der Studienergebnisse so schwer. Manche Menschen haben mehr von dem einen Enterotyp, andere weniger, ohne dass sich dies auswirkt.
Wir wissen zudem aktuell zu wenig über die Auswirkungen einer Veränderung des Mikrobioms. Es müsste mehr quantifiziert werden, was einen gesunden Darm ausmacht. Die technischen Möglichkeiten verbessern sich gerade erst nach und nach. Bisherige Studien bedienten sich so heterogener Techniken, dass keine Metaanalysen daraus erstellt werden konnten. Wir müssen noch etwas Geduld haben.
„Die Forschung zum Mikrobiom ist komplex und vermutlich noch ziemlich am Anfang“
Gibt es Unterschiede in der Potenz der Einflussnahme zwischen Bakterien, Viren und Pilzen?
Nein, das würde ich nicht sagen. Es gibt eine eigene Forschung zum Virom und Mykobiom. Die Bakterien interessieren Forschende, Patient:innen und Angehörige allerdings oft am meisten. Wir wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen Viren und Kopf-Hals-Tumoren gibt. Es könnten auch Viren sein oder das Zusammenspiel des Mikrobioms, das einen wesentlichen Einfluss auf neurologische Erkrankungen hat.
Welche neurologische Erkrankung steht aus Ihrer Sicht am ehesten unter der Kontrolle des Mikrobioms?
Bei multipler Sklerose kann ich mir den Zusammenhang mit dem Mikrobiom sehr gut vorstellen, denn es handelt sich um eine entzündliche Erkrankung unter Beteiligung des Immunsystems. Schwieriger ist für mich hingegen der Zusammenhang mit M. Alzheimer und Demenzen. Der Mechanismus wäre hier spannend. Dazu erhoffe ich mir mehr aussagekräftige Studien.
„Das Mikrobiom ist Schwankungen lebenslang unterworfen.“
Wo sehen Sie Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Mikrobiom?
Das Mikrobiom ist lebenslang Schwankungen unterworfen. In den ersten Lebensjahren verändert es sich besonders stark. Kleinkinder müssen sich ihrer Umgebung anpassen. Das Immunsystem bildet sich aus. Die Geburt – natürlich oder Kaiserschnitt – sowie die Ernährung – Flasche oder Brust – spielen eine große Rolle für das Mikrobiom. Im Erwachsenenalter ist das Mikrobiom stabil, während es im Alter wieder anfälliger für Veränderungen ist. Jeder Urlaub, jede Umgebungsveränderung kann Einfluss auf das Mikrobiom nehmen. Medikamente, wie Antibiotika oder Protonenpumpenhemmer, spielen ebenfalls eine Rolle. Nicht zuletzt ist die Ernährung entscheidend: Gezielten Einfluss können Menschen durch Präbiotika, also Nährstoffe für die Darmbakterien und -pilze nehmen. Probiotika können ebenfalls die Darmbewegung regulieren, das Immunsystem beeinflussen, die Schmerzwahrnehmung verändern oder auf die Darm-Hirn-Achse wirken.
Und wie ist das mit Stuhltransplantationen?
Wenn ich an die Möglichkeit der Stuhltransplantation zur Therapie einer gastrointestinalen Erkrankung denke, dann müssen wir damit rechnen, dass mit der Transplantation metabolische, neurologische, entzündliche und psychische Störungen potentiell mit übertragen werden könnten. So viel ist bekannt. Aber welche Mischung an Mikroorganismen es sein sollte, wie und in welcher Menge – daran arbeitet die Wissenschaft noch. Zugelassen ist sie derzeit nur bei der schweren rezidivierenden Clostridieninfektion.
Das klingt nach einer spannenden Zukunft für die Forschung und Wissenschaft.
Ja, das sehe ich auch so. Ein interessantes Feld wird die Beeinflussung des Magens durch das Mikrobiom sein. Im Magen befinden sich nicht viele Mikroorganismen. Offensichtlich hat der Darm aber einen Einfluss auf die Magenfunktion, an dem das Mikrobiom beteiligt ist. Die Mechanismen werden aktuell erforscht. Ebenso kümmern sich einige Arbeitsgruppen um das Zusammenspiel der einzelnen Mikroorganismen. Da können wir aufschlussreiche Erkenntnisse erwarten. Was mich allerdings am meisten fasziniert ist die Forschung zum Metabolom, also den Stoffwechselprodukten des Mikrobioms. Was produzieren die Mikroorganismen? Wie kann dies zuverlässig gemessen werden? Und wie können wir hierauf Einfluss nehmen, um Erkrankungen – auch neurologische – zu beeinflussen?
Frau PD Dr. Stengel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
PD Dr. Miriam Stengel ist ärztliche Direktorin der Helios Klinik Rottweil. Sie arbeitet zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen. Ihr besonderes Interesse, klinisch und wissenschaftlich gilt der Neurogastroenterologie. Aus diesem Grund engagiert Sie sich in der Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM), die unter ihrem Dach eine Patientenorganisation, MAGDA, unterhält. Dr. Stengel ist 1. Vorsitzende von MAGDA und engagiert sich für eine Patientenfortbildung, die von Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen angeboten wird. Im Fokus stehen Informationen zur Entstehung, Behandlung und zum Umgang mit funktionellen gastrointestinalen Erkrankungen.