In unserem Körper leben mindestens so viele Mikroorganismen wie menschliche Zellen. Neue Forschungen belegen, dass die winzigen Mitbewohner auch unser Denken und Fühlen beeinflussen. Die Neurogastroentereologin PD Dr. Miriam Stengel sprach mit uns über den Stand der Forschung zur "Darm-Hirn-Achse".
Frau Dr. Stengel, über welche Wege hängen Darm, Nerven und Gehirn zusammen?
Im Wesentlichen sind dies zwei Wege. Der Gastrointestinaltrakt und das Gehirn sind über den Nervus vagus miteinander verknüpft. Dieser zieht durch den halben Körper und bringt viele Fasern aus dem Magen-Darm-Trakt mit. Im Hirnstamm werden Hirnnervenkerne aktiviert, die einerseits den Gastrointestinaltrakt regulieren, andererseits aber mit Hirnregionen zusammenarbeiten, die für Emotionen, Erfahrungen oder auch Stress zuständig sind. Ein zweiter Weg des Austausches zwischen Darm und Gehirn beruht auf der Tätigkeit des Mikrobioms. Das Mikrobiom verstoffwechselt Nährstoffe zu „Botenstoffen“, die einerseits vor Ort Nervenfasern erregen, andererseits aber auch in die Blutbahn abgegeben werden können. Über die Blutbahn können verschiedene Organe erreicht und angesprochen werden – auch das Gehirn.
Dann spielt das Mikrobiom eine wichtige Rolle und kann die Gesundheit des Gehirns beeinflussen?
Davon müssen wir ausgehen. Wenn es von dem einen oder anderen Botenstoff mehr oder weniger gibt, könnte es sein, dass dies an dem Mikrobiom liegt. Eine Veränderung der Zusammensetzung des Mikrobioms, z. B. durch die Gabe von Antibiotika, könnte das Gleichgewicht stören und zu einem generellen Ungleichgewicht führen. Das kann Auswirkungen auf die Gesundheit haben.
Welche aktuellen Erkenntnisse zum Mikrobiom und neurologischen Erkrankungen haben Sie?
Ehrlich gesagt, haben wir begrenzte Erkenntnisse. Das Mikrobiom scheint mit Blick auf die aktuelle Forschung alle möglichen Erkrankungen zu beeinflussen. Vieles davon ist leider noch ungesichert.
Mikroorganismen befinden sich überall im Gastrointestinaltrakt. Ihre Anzahl nimmt vom Mund bis zum Dickdarm zu. Ihre Zusammensetzung ist allerdings sehr variabel und interindividuell. Die Forschung dazu ist extrem komplex. So ist aktuell ist nicht genau bekannt, was als „normales“ Mikrobiom zu bezeichnen ist. Und das macht die Bewertung der Studienergebnisse so schwer. Manche Menschen haben mehr von dem einen Enterotyp, andere weniger, ohne dass sich dies auswirkt.
Wir wissen zudem aktuell zu wenig über die Auswirkungen einer Veränderung des Mikrobioms. Es müsste mehr quantifiziert werden, was einen gesunden Darm ausmacht. Die technischen Möglichkeiten verbessern sich gerade erst nach und nach. Wir müssen noch etwas Geduld haben.
PD Dr. Miriam Stengel ist ärztliche Direktorin der Helios Klinik Rottweil. Sie arbeitet zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen. Ihr besonderes Interesse, klinisch und wissenschaftlich, gilt der Neurogastroenterologie. Aus diesem Grund engagiert sie sich in der Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM), die unter ihrem Dach eine Patient:innenorganisation, MAGDA, unterhält. Dr. Stengel ist 1. Vorsitzende von MAGDA und engagiert sich für eine Patient:innenfortbildung, die von Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen angeboten wird. Im Fokus stehen Informationen zur Entstehung, Behandlung und zum Umgang mit funktionellen gastrointestinalen Erkrankungen.