Das Immunsystem älterer Menschen
Die Geburt ist der Startschuss für lebenslanges Lernen. Aber nicht nur das Gehirn entwickelt sich vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug weiter. Auch unser intaktes Immunsystem bleibt bis zum Schluss lernfähig. Seine Prioritäten ändern sich aber im Lauf der Jahrzehnte: Auf die Grundausbildung mit großen Lernfortschritten folgt die Arbeitsphase mit flexiblen Fortbildungen. Im Alter liegt der Fokus vor allem auf den Erinnerungen. Denn das Immunsystem kann sich an Viren und Bakterien erinnern, mit denen es bereits in Kontakt gekommen ist, und kann sich dadurch bei einer erneuten Infektion besser verteidigen.

Immunsystem ab 60
Das Immunsystem setzt sich aus zwei großen Abwehreinheiten zusammen: der angeborenen und der erworbenen Immunabwehr, auch adaptive Immunabwehr genannt. Beide Teile werden im Laufe des Lebens fortlaufend umgebaut und weiterentwickelt. Etwa ab dem 60. Lebensjahr kann es aufgrund der nachlassenden Leistungsfähigkeit des Immunsystems zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infekte kommen. Außerdem nehmen akute Infektionskrankheiten bei älteren Menschen oft einen schwereren Verlauf als in jungen Jahren, etwa die Grippe, Gürtelrosen oder auch Lungenentzündungen. Ein geschwächtes Immunsystem macht Senioren anfällig für Erkrankungen von außen – und innen.
Immunsystem Alterung: Forschungsfeld Immunseneszenz
Um den altersbedingten Abbau des Immunsystems besser zu verstehen, Strategien zu entwickeln und die Abwehrkraft von Senioren zu stärken, betrachten Wissenschaftler die Schwächung des Immunsystems im Zuge der Alterung auf zellulärer Ebene. Die mit zunehmendem Alter zu beobachtenden Veränderungen der verschiedenen Abwehrkomponenten werden unter dem Fachbegriff Immunoseneszenz oder Immunseneszenz zusammengefasst. Diese Alterung des Immunsystems betrifft sowohl das unspezifische als auch das spezifische Immunsystem.
Entzündungsaltern: Chronische Entzündungen im Alter
Die Untersuchungen zeigen, dass der Alterungsprozess des Immunsystems nicht nur die Abwehrkraft gegenüber Krankheitserregern schwächt. Mit steigendem Alter kann es zu Fehlregulationen kommen, die den Körper anfälliger für chronische Erkrankungen machen. So werden etwa mehr entzündungsfördernde Substanzen gebildet, die eine altersbedingte “Dauerentzündung” auslösen können. Fachleute sprechen dann vom “Inflammaging” oder Entzündungsaltern – einem Begriff, der vom italienischen Immunologe Claudio Franceschi geprägt wurde. Mit fortschreitender Immunalterung werden körpereigene Antigene öfter als fremd missdeutet – das Immensystem erkennt praktisch die eigene “Familie” nicht mehr. Das kann Autoimmunerkrankungen fördern.
Schlechte Verbindung von Immunzellen bei älteren Menschen
Im Rahmen der Immunseneszenz entstehen auch Probleme bei der Kommunikation bestimmter Zellen der unspezifischen Abwehr (“Fresszellen”) untereinander. Sie reagieren schwächer auf bestimmte Botenstoffe (Zytokine) und kommen quasi mit dem Aufräumen nicht nach. Veränderte und altersschwache Zellen werden dadurch nicht mehr so gründlich aussortiert. Auch das fördert die Entstehung von Dauerentzündungen, die chronische Krankheiten wie Krebs, Arteriosklerose, Typ-2-Diabetes oder Demenz begünstigen können. Nicht ohne Grund spricht man bei diesen Erkrankungen auch von Alterserkrankungen.
Das alternde Immungedächtnis wird vergesslich
Das Immunsystem bleibt prinzipiell bis ins hohe Alter lernfähig. Allerdings wird der Aufwand, um unbekannte Erreger zu bekämpfen, höher und die Speicherung neuer Informationen funktioniert weniger zuverlässig. Auch das trägt dazu bei, dass wir im Alter ein schwächeres Immunsystem haben.
Der Alterungsprozess des Körpers setzt nicht erst im Rentenalter ein: Spätestens in mittleren Jahren zeigt der Körper erste Verschleißerscheinungen, beispielsweise bei der Sehkraft oder den Gelenken. Für die nachlassende Leistungsfähigkeit des Immunsystems ist vor allem die Rückbildung eines besonders wichtigen Immunorgans verantwortlich: der Thymus.
Altersbedingte Veränderungen im Immunsystem
Die wohl größte Veränderung des Immunsystems im Alter lässt sich auf die Rückbildung des Thymus zurückzuführen, der sich unter dem Brustbein befindet. Die Thymusdrüse ist die Lymphozyten-Fabrik unseres Abwehrsystems und der Ort, wo spezielle Immunzellen ausreifen: die sogenannten T-Zellen, wobei T für Thymus steht. T-Zellen gehören zu den weißen Blutkörperchen (Lymphozyten). Es gibt verschiedene T-Lymphozyten mit unterschiedlichen Aufgaben bei der Abwehr. Ausdifferenzierte, also fertig “ausgebildete” Lymphozyten, werden auch als Effektorzellen bezeichnet.
Der Thymus “schrumpft” ab dem ersten Lebensjahr. Schon in der Pubertät geht er quasi in “Altersteilzeit” und etwa mit dem 60. Lebensjahr dann weitgehend in den Ruhestand. Dann reifen keine neuen T-Lymphozyten mehr heran. Das Immunsystem ist im Alter also auf die vorhandenen T-Lymphozyten angewiesen.
Eine andere Gruppe der Lymphozyten reift im Knochenmark: die B-Lymphozyten (B für englisch: Bone-Marrow, also Knochenmark). Im Zuge des Alterungsprozesses werden im Knochenmark Zellen, die eigentlich zur Produktion von B-Lymphozyten verwendet wurden, durch Fettgewebe ersetzt.
B- und T-Lymphozyten sind entscheidend für die Abwehrkraft des Körpers: Sie sind die wichtigsten Säulen der adaptiven Immunabwehr. Mit ihrer Hilfe werden neue Erreger erkannt und mit passenden Antikörpern unschädlich gemacht. Anschließend wandern Informationen über spezielle Erkennungsmerkmale (Antigene) bekämpfter Infektionserreger in ein zelluläres Gedächtnis. Dazu werden spezielle T- und B-Zellen hergestellt und eingelagert. Während einer Infektion produzierte Antikörper verschwinden oft nach wenigen Monaten wieder. Die Gedächtniszellen dagegen bleiben oft lebenslang erhalten.
Dem Archiv des Immunsystems geht im Alter das Papier aus
Mit zunehmendem Alter werden im Knochenmark und dem Thymus weniger “unbeschriebene” Lymphozyten bereitgestellt. (Fachleute sprechen von “naiven” B- und T-Lymphozyten.) Man kann es sich so vorstellen, dass dem Immunarchiv die Karteikarten ausgehen, um neue Erreger zu erfassen.
Das ist einer der Gründe, warum bei Senioren häufig Impfungen schlechter funktionieren als bei jüngeren Menschen. Der Körper konzentriert sich jetzt darauf, bereits vorhandene Informationen zu bewahren und kann dafür weniger neue Informationen verarbeiten. Das schwächt das Immunsystem im Kampf gegen neue Erreger.
An einer Stelle hat die Schwächung des Immunsystems bei Senioren einen Vorteil: Allergien treten im Alter seltener auf, denn das Immunsystem zeigt sich bei Älteren “gelassener” gegen fremde Antigene als bei jüngeren Menschen.
Fit für ein starkes Immunsystem im Alter
Die Umbauarbeiten am Immunsystem begleiten uns ein Leben lang. Entscheidend für die Geschwindigkeit, mit der die Immunabwehr im Alter nachlässt, ist aber nicht das Lebensalter in Jahren, sondern das biologische Alter. Forscher können das biologische Alter anhand von Veränderungen an der Erbsubstanz eines Menschen messen. Solche Untersuchungen zeigen, dass die biologische Uhr nicht streng dem Kalender folgt. Menschen, die ein besonders hohes Alter erreichten, hatten auch eine weitgehend erhaltene Immunfunktion. Unser Lebensstil kann viel dazu beitragen, die biologische Uhr (ein wenig) zurück zu stellen und das Immunsystem zu stärken.

Das Immunsystem lebenslang fördern
Nicht alle Keime, mit denen das Immunsystem konfrontiert wird, sind Krankheitserreger: Im Darm treffen Immunzellen auf Freunde, Feinde und solche, die beides werden könnten. In jeder Lebensphase lernt die Abwehr hier verschiedene Erreger zu unterschieden und sammelt Bakteriensteckbriefe für das Archiv. Außerdem helfen einige Darmbewohner bei der Abwehr schädlicher Keime. Ein artenreiches Darm-Mikrobiom hilft daher dem Immunsystem, sich permanent fortzubilden. Eine ausgewogene Ernährung mit viel frischem Gemüse und Obst sorgt für eine gesunde Bakteriengemeinschaft im Darm und stärkt das darmeigene Immunsystem. Das ist eine hervorragende Möglichkeit, ein geschwächtes Immunsystem im Alter zu unterstützen. Schließlich ist der Darm das größte Organ unseres Abwehrsystems.
Das Immunsystem im Alter stärken
Die wichtigsten Voraussetzungen für ein starkes Immunsystem sind ausreichend Bewegung, erholsamer Schlaf, die Vermeidung von Stress und eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährung, die alle wichtigen Bausteine für die Komponenten des Immunsystems liefert. Dazu gehören unter anderem die Mikronährstoffe Vitamin A, Vitamin C und Vitamin E sowie Zink, Selen und Magnesium. Besonders wichtig für Senioren ist auch eine gute Versorgung mit Vitamin D für das Immunsystem im Alter. Ältere Haut kann es nämlich selbst bei Sommerwetter viel schlechter bilden als die jüngerer Menschen. In der kalten Jahreszeit reicht die Sonneneinstrahlung bei uns nicht aus, um ausrechend körpereigenes Vitamin D zu bilden, was schnell zu einer Unterversorgung führen kann. In Bezug auf die Immunoseneszenz ist auch die Funktion von Zink für das Immunsystem interessant. So gibt es Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass ein niedriger Zink-Status bei älteren Menschen ein Risikofaktor für Infektionen wie Lungenentzündungen sein könnte.
Darüber hinaus macht der Verzicht auf Genussgifte wie Alkohol oder Tabak das Immunsystem stärker. Denn auch an der Reaktion auf solche “Schadstoffe” ist die Immunabwehr beteiligt. Wer hier verzichtet, hält seiner Immunabwehr den Rücken frei, um die wirklich wichtigen Schlachten bis ins hohe Alter mit aller Abwehrkraft schlagen zu können.
Wichtig ist außerdem, sich auch im Alter eine positive Lebenseinstellung zu bewahren. Im Spruch: "man ist so alt, wie man sich fühlt" steckt einiges an Wahrheit. Wer sich ständig Sorgen um seine Gesundheit macht, in Angst vor Einsamkeit oder Hilfsbedürftigkeit im Alter lebt oder sogar aufgrund seiner Umstände in Depressionen verfällt, schadet damit seinem Organismus. Heutzutage ist es wissenschaftlich unumstritten, wie stark auch das Immunsystem von der Psyche beeinflusst wird.
Was lernen wir daraus? Wenn wir Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen, können wir auch auf das Altern des Immunsystem Einfluss nehmen und sind somit auch besser vor Grippe und Co. geschützt. Grundsätzlich gilt, dass ein gestärktes Immunsystem der wohl beste Schutz ist, um der erhöhten Infektanfälligkeit im Alter entgegenzuwirken. Und mit einer Unterstützung der Abwehrkräfte kann man nicht früh genug anfangen. Gerade die Entwicklung ungünstiger Ernährungsgewohnheiten oder der Konsum von Genussmitteln beginnen oft schon, wenn man noch jung und gesund ist.
